Über Vorurteile_Karl May und Hedwig Courths-Mahler

Über Vorurteile

 

Karl May und Hedwig Courths-Mahler

 

Nachdem wir die Schallmauer der Vorurteile durchbrochen haben und mit wachsender Begeisterung ignorieren, was andere Leute sagen, haben wir überhaupt nicht mehr daran gedacht, daß diese unabhängige Einstellung den meisten Menschen sehr schwer gemacht wird.

 

Und nicht nur das allein.

 

Wir selber lernen, so selbstverständlich wie Kaffeekochen, Meinungen zu übernehmen und verlassen uns auf ihre Richtigkeit. Oft muß man das ja auch, wenn man nicht immer selber bei Adam und Eva mit seinen Erfahrungen anfangen will. Dabei begeht man jedoch leicht den Fehler, die übernommenen Meinungen nicht noch einmal nachzuprüfen, ob man diese tatsächlich auch für richtig hält.

 

So habe ich Zuhause und in der Schule ein Wertebild unserer Literatur vermittelt bekommen, das ich, weil sozusagen von Autoritäten entworfen, zunächst ungefragt übernahm. Dazu gehörte auch die Meinung, daß Karl May Abenteuerromane für Jungen geschrieben hat, die zwar spannend sind und erfolgreich verfilmt worden waren, aber die man nicht unbedingt liest – bzw. es nicht an die große Glocke hängt, daß man sie liest.

 

Um wieviel Vergnügen und Humor und lebenskluge Erfahrungen und christliche und tolerante Gedanken ich da in meiner Jugend gekommen bin, empfinde ich jetzt als unerhörten Entzug geistiger und seelischer Bereicherung.

 

Nach der Geburt unseres ersten Kindes sind Heinrich und ich auf Grund eines Artikels im Fränkischen Sonntag auf Karl May als lesenswerten Autor gestoßen. Und wir haben von da an praktisch in einem Zuge alle bis dahin 72 im Handel erhältliche Karl-May-Romane gelesen! Und wir haben uns nach der Lektüre jedes Bandes gefragt, wie ein Schriftsteller so niedrig eingestuft werden kann, der so tief christlich – „Weihnachten im wilden Westen“ -, so tolerant – alle Orientromane – so um soziale Gerechtigkeit kämpfend – „Das Buschgespenst“ -, und so humorvoll – „Der blaurote Methusalem“ – schreibt.

 

Damals fingen wir an, mit besonderer Aufmerksamkeit unseren übernom-menen Meinungen nachzuspüren und sie auf ihre Berechtigung hin zu untersuchen.

 

Leider wäre ich auch nie auf die Idee gekommen, einen Courths-Mahler-Roman zu lesen, eben wegen der automatisch akzeptierten Fremdmeinung, sie hätte nur Kitsch für geistig Anspruchslose geschrieben, wenn ich nicht zufällig in der Zeitschrift „Die Mitarbeiterin“ (Klens-Verlag) den Artikel „Träume einer Unerwünschten. Hedwig Courths-Mahler – von der Bettelprinzeß zur Königin“ von Marianne Brentzel über Hedwig Courths-Mahler* mit dem Literaturhinweis auf Doris Maurer gelesen hätte.

 

Doris Maurers germanistisches Renommée veranlaßte mich, diese geschmähte Autorin endlich eines Blickes zu würdigen. Hätte ich das doch schon früher getan!

 

Nichts ist dümmer als ein Vorurteil!

 

Ein Donnerwetter über sämtliche Vorurteile!

 

Das Vorurteil über Hedwig Courths-Mahler geht übrigens auf Joseph Goebbels zurück, was allein schon reicht, es in seiner Schäbigkeit zu entlarven.

 

Goebbels hatte Hedwig Courths-Mahler fragen lassen, ob sie ihre Romane nicht zeitgemäß, also nationalsozialistisch, schreiben könne. Wenn Goebbels nur einen Blick in einen ihrer Romane getan hätte, hätte er sich diese Frage schenken können.

 

Hedwig Courhts-Mahler lehnte Goebbels Ansinnen, wie – bei der Kenntnis ihrer Romane - nicht anders zu erwarten war, ab. Darauf erhielt sie absolutes Schreibverbot. Gleichzeitig wurde eine Diffamierungs-

kampagne gegen Hedwig Courhts-Mahler und ihre  Romane gestartet.

Wie bei allen Verleumdungen war auch hier bald die Quelle – also Joseph Goebbels – vergessen, nicht jedoch das, was sie in die Welt gesetzt hatte.

  

Wahrscheinlich ohne Kenntnis dieser dubiosen Quelle haben sich im Laufe der Zeit namhafte Kritiker, z.T. selber Schriftsteller, gefunden, die H.C.-M. – wie sie von Kennern genannt wird – klischeehafte Darstellungen von Gut und Böse, von der Rollenverteilung der Geschlechter, von der Scheinwelt des Adels und der Reichen, vorwarfen. Es fehlt auch nicht an Zitaten von angeblich kitschigen Situationsbeschreibungen.

 

Um solche tatsächlich zu finden, muß man aber schon sehr viel H.C.-M.-Romane lesen, und dabei findet man tatsächlich ganz anderes als Kitsch!

 

Man findet, daß hier eine überaus kluge und mutige und liebevolle Schriftstellerin ihren genialen Einfallsreichtum in den Dienst der Armen, Unterdrückten und Benachteiligten gestellt hat.

 

Man findet eine energische Vorkämpferin für die Rechte der Frau, für die berufstätige Frau, für die ebenbürtige Lebenskameradin ihres Mannes, für die Frau, die sich scheiden läßt (Käthes Ehe).

 

Man findet eine Mitstreiterin für das Recht der Jugend auf eigenständiges Denken und Handeln (Das Erbe der Rodenberg), und für das Recht, sich nicht in sinnlose Schablonen pressen zu lassen.

 

Und man findet eine unerbittliche, kompromißlose Gegnerin des Nationalsozialismus (Ich weiß, was Du mir bist).

 

Adel, der von der Geburt, aber nicht vom Charakter abgeleitet ist (Die Bettelprinzeß), und Reichtum, der nur ererbt, aber nicht selbst errungen ist, gilt ihr wenig.

 

Trotzdem setzt sie gerne, sozusagen als ausgleichende Gerechtigkeit, eine unverhofft bzw. unerwartete Erbschaft als „deus ex machina“ ein (Armes Schwälbchen).

 

In einer unerschöpflichen Vielfalt schildert H.C.-M. Probleme und Konflikte, die sie der Wirklichkeit der sogenannten Gründerzeit nachempfindet.

 

Da ist der Zwang für Offiziere der Kaiserzeit, eine vermögende Frau zu heiraten, ebensowenig kitschig, wie die Entwurzelung dieses Berufsstandes nach dem 1. Weltkrieg (Der Abschiedsbrief).

 

Es gibt dazu ein schönes Beispiel aus meiner Familie. Mein Großvater väterlicherseits, der Beamter war, mußte seine Schulbehörde um Erlaub-nis bitten, damit er meine Großmutter überhaupt heiraten durfte, die die für Beamtenbräute erforderliche Mitgift von 5000 Goldmark nicht besaß. Er schrieb: „Zwar bringt meine Braut nicht die erforderliche Mitgift mit in die Ehe, aber ihr Fließ und ihre Tatkraft sind mehr wert als 5ooo Goldmark.“ Das könnte glatt in einem Roman von Hedwig Courths-Mahler stehen.

 

H. C.-M. nimmt sich der Außenseiter der Gesellschaft an, der Waisen, die bei Verwandten nur geduldet werden (Sie hatten einander so lieb), der Alten der unverschuldet in Armut geratenen (Im fremden Land).

 

Sie hat einen Blick für die Wunden, die sich Menschen gegenseitig schlagen und die die Menschen der Natur zufügen. Sie ist ihrer Zeit weit voraus, wenn sie einen Italienreisenden als erstes die ungeheuer verschmutzten Lagunen in Venedig bemerken läßt: „Der Campanile überragte das Ganze in glutroter Abendsonne liegende Stadtbild. Wenn der Blick sich aber von diesem herrlichen Bild abwandte und sich in das … Meer versenken wollte, dann bot sich ihm ein weniger schöner Anblick. Auf dem Wasser zu beiden Seiten der Brücke schwammen unbeschreiblich viel Gegenstände, die schon einen Vorgeschmack gaben von dem, was man später in Venedig alles auf den Lagunen herumschwimmen sehen würde. Tote Katzen, Heubündel, Papiertüten, leere Konservenbüchsen, leere und verkorkte Flaschen, schmutzige Lappen und Gemüseabfälle …“ (Du bist meine Heimat).

 

Hedwig Courths-Mahler hat Erziehungsgrundsätze, die denen ihrer Zeit diametral entgegengesetzt sind.

Da läßt sie ein junges Mädchen sagen, es erscheine ihr gewiß, daß vor allem Herz und Milde zur Kindeserziehung gehören. Und das in der Zeit des Rohrstockes!

 

Eine junge Lehrerin sagt zu ihren neuen Schülern: „Und wenn ihr mich fragt, ob ihr bei mir lernen müßt, so kann ich euch nur sagen, ihr müßt nicht lernen, aber ihr dürft lernen. Lernen ist nämlich etwas Wunderbares …“. (Die Heidelerche)

 

Überhaupt sind H.C.-M.s junge Mädchen von entwaffnender Frische und Direktheit. Das sind keine naiven und willenlosen Dummchen. Das sind Persönlichkeiten, die denken und sich weder das Denken noch das Aussprechen ihrer Gedanken verbieten lassen: „Ich weiß, ich weiß, Tante Anna, es geht bei uns streng nach der Uhr,“ sagt eine rebellische junge Dame, „es ist alles so unsagbar regelmäßig in Onkel Michaels Haus, alle Gefühle werden nach einem Schema nebeneinander eingeschachtelt wie Onkels Kuriositäten. Außer der Zeit darf nichts aus den Schachteln genommen werden. Man würde, glaube ich, nicht einmal wagen, außer der Zeit zu sterben, wenn Onkel Michael dafür eine besondere Zeit angesetzt hätte.“ (Das Drama von Glossow)

 

Eine andere sehr temperamentvolle junge Dame schüttet ihrer Widersacherin eine Schüssel rote Fruchtsoße über das teure Kleid. Über den sich daraus ergebenden Tumult kommen ihr doch die Tränen, und ihr Tischnachbar versucht sie zu trösten, das Mißgeschick hätte doch jedem passieren können. „Wieso Mißgeschick?“ fragt sie erstaunt. „Ich hab`s mit Absicht getan.“ (Nur aus Liebe, Marlies)

 

Menschen, die protestieren, die sich gegen Unrecht und Schikane auflehnen, sind Hedwig Courths-Mahler ans Herz gewachsen.

Ein geradezu meisterhaftes Charakterporträt gelingt ihr mit Max, einem lebensklugen und pfiffigen Berliner Jungen, der Herz und Zunge auf dem rechten Fleck hat (Das verschwundene Dokument). Auf den unberechtig-ten Vorwurf einer Intrigantin, die ihm unterstellt, er hätte Wanzen, entgegnet er keck: „Det Jeld vor die Rechnung hab ick mir jeholt un noch`n paar Wanzen mitjebracht vielleicht. Dat will ick Ihnen man sajen, Frollein, die Wanzen lass ick nich uff Muttern sitzen …“.

 

H. C.-M. hat dem „Volk aufs Maul geschaut“. Dazu gehört die hinreißende Berliner Schnauze ebenso wie die Emotionalität und die strenge Beachtung alles Schicklichen. Zeitkolorit.

Vor dieser Folie ent- und verwickeln und entwirren sich die persönlichen und familiären Nöte und Sorgen, und entfalten sich Hoffnungen, Mut,

 

Humor und überschäumende Lebensfreude von Menschen aller sozialen Schichten, von Bauern und Handwerkern und Dienstboten, vom gehobenen Mittelstand bis zum hohen Adel.

 

Da ist die entzückend freche Verwechslungskomödie „Die schöne Unbekannte“, und da gibt es jede Menge spannender Krimis „Griseldis“, „Das Drama von Glossow“, „Das Erbe der Rodenberg“, „Das stolze Schweigen“, „Wenn Wünsche töten könnten“, „Lissa geht ins Glück“, „Das verschwundene Dokument“ ….

 

Wir freuen uns über „Fachinger Heilwasser“, „Melissengeist“ und „Kölnisch Wasser und „Sawade-Pralinen“ zu lesen, als träfe man liebe alte Bekannte nach langen Zeiten unbeschadet wieder.

 

Und ich freue mich auch über jedes Happy-End und vergewissere mich jedesmal, ob es auch tatsächlich dahin kommt, ehe ich mich der sicheren Spannung der Lektüre eines Courths-Mahler-Romanes überlasse.

Warum eigentlich gerade das Happy-End kritisiert wird, frage ich mich oft. Es ist ja, bei aller Modernität, nach wie vor so, daß das stärkste menschliche Streben danach geht, das persönliche (Liebes-)Glück zu finden.  

 

Alle Welt beklagt die zunehmende Vereinsamung und seelische Entwurzelung in unserer Gesellschaft, beklagt, daß ein Scheitern der Lebenshoffnungen zu Drogenkonsum und Alkoholmißbrauch führt oder die Menschen depressiv werden und „aussteigen“.

 

Eigentlich müßten da Bekenntnisse zur Lebensfreude und zum Lebensmut willkommen sein. Weil sie ansteckend sind.

 

Vielleicht magst Du jetzt ja einmal in mein Buchgeschenk „Der Schein-gemahl“ von Hedwig Courths -Mahler hineinschauen?  

Mit dem „Scheingemahl“ wirst Du die Bekanntschaft eines jungen Mannes machen, dessen selbstlose Liebe von dem geliebten Mädchen aufs zauberhafteste für ihr gemeinsames Glück umgedeutet wird. …

  

Quellen

Auszug aus: Dagmar Braunschweig-Pauli M.A., „Über Vorurteile - Brief an eine Freundin“, Januar 1997.

* Marianne Brentzel: „Träume einer Unerwünschten. Hedwig Courths-Mahler – von der Bettelprinzeß zur Königin“, Artikel in: „Die Mitarbeiterin“, Klens-Verlag, Rubrik „Schreibende Frauen“ Die Autorin beruft sich auf „Informationen aus: Doris Maurer, Die Faszination der Hedwig Courths-Mahler, in:Hedwig Courths-Mahler, Die Bettelprinzess – Griseldis – Opfer der Liebe. Mit Beiträgen von Doris Maurer und Alphons Silbermann sowie zeitgenössischen Bildern und Dokumenten, Gustav Lübbe Verlag, Bergisch-Gladbach 1992.“

 

© Dagmar Braunschweig-Pauli M.A., „Über Vorurteile –Brief an eine Freundin, Trier, Januar 1997.